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An die Frau Dr. Angela Merkel.
Offener Brief

Wismar, 12.Januar 2008

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Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin,

Den Anlass zu diesem Brief bilden folgende Gründe:

Am 19. September 2007 hat die Bundesregierung eine "Richtlinie über eine Anerkennungsleistung an Verfolgte für Arbeit in einem Ghetto, die keine Zwangsarbeit war und bisher ohne sozialversicherungsrechtliche Berücksichtigung geblieben ist", beschlossen. Die Richtlinie wird vorn Bundesamt für zentrale Dienste und offene Vermögensfragen (BADV) nach Weisung des Bundesministerium der Finanzen durchgerührt. Die Berechtigten können eine einmalige Anerkennungsleistung in Höhe von 2000 Euro erhalten. Laut Informationsblatt vom BADV, zum berechtigten Personenkreis gehört "Verfolgter des Nationalsozialismus", der "sich zwangsweise in einem Ghetto aufgehalten hat" und "während dieser Zeit ohne Zwang in einem beschäftigungsähnlichen Verhältnis gearbeitet hat".

An den Vorstand unseres Vereins wenden sich viele unserer Mitglieder, die über die Formulierung, in den Ghettos ohne Zwang, d.h. freiwillig gearbeitet zu haben, empört sind. Die Formulierung der Richtlinie, ihrer Meinung nach, ist nichts anderes als die grobe und zynische Verfälschung der Geschichte des Aufenthaltes der Juden in den Ghettos während des Zweiten Weltkrieges. Genau so formulierte damals die NS-Propaganda und ihre Ideologen für die internationale &OUML;ffentlichkeit in der freien Welt und besonders für die Vertreter des Roten Kreuzes, dass die Juden in den Ghettos gut lebten, ohne Zwang arbeiteten und glücklich waren. Und diese Lüge unterstützen heute ihre Nachfolger, die behaupten, dass es keinen Holocaust gab. Die Erscheinung der Beschlüsse mit den solchen Formulierungen heute von den hohen offiziellen Instanzen der Bundesrepublik Deutschland ist unzulässig, verletzt die Gefühle der Holocaust-Opfer und schafft den Nährboden für die Bestreiter des Holocaust.

Es ist weltbekannt, dass die Ghettos von Anfang an von Nazis nur als vorläufige Sammelorte für die spätere Vernichtung der Juden dienen sollten. Die Ghettoisierung der Juden hinter Stacheldraht war ausnahmslos der erste Schritt zu ihrer Liquidierung. Erklärtes Ziel der Nazis, wie es in der Wannseekonferenz am 20. Januar 1942 von den obersten NS-Henkern besprochen wurde, war die "Endlösung der Judenfrage", die totale Ausrottung der 11 Millionen Juden Europas. Aber sie wollten ihre "Aktionen" zeitweilig, so lange wie möglich, vor der freien Welt geheim halten. Wir, ehemalige Häftlinge der NS-Verbrecher, können nicht mit der Behauptung der Richtlinie einverstanden sein, dass Verfolgte in den Ghettos "in einem beschäftigungsähnlichen Verhältnis gearbeitet haben". Diese Formulierung steht im Widerspruch zu dem Plan der "Endlösung". Durch die Organisation der Zwangsarbeit sollten die "arbeitsfähigen" Juden zwangsweise wie geplant, "zu Tode gearbeitet werden". Die "arbeitsunfähigen" Juden, von vornherein alle Kinder unter zwölf Jahren, alle älteren Menschen, alle Kranken, alle schwangeren Frauen wurden jedoch aus den Ghettos direkt in den Tod geschickt: in die Gaskammern der Vernichtungslager oder wurden erschossen. Auf dem von NS-Truppen besetzten Territorium der Sowjetunion z.B., waren etwa 3 Mio. Leute jüdischer Herkunft grausam vernichtet worden und weniger als 1% davon überlebte. Jede Arbeitsart Im Ghetto war Zwangsarbeit, denn es war unmöglich für die unfreien Leute, die in den menschenunwürdigen Verhältnissen zwischen Leben und Tod waren, ohne Zwang zu arbeiten, Man darf nur vom rein relativen Unterschied und gewissem Zwangsgrad sprechen. Es tut uns leid, dass wir über solchen axiomatischen Sachlagen reden müssen. Wir benennen dies nicht nur zum Gedenken an Millionen von Ermordeten. Wir sagen dies auch zum Schutz der sehr kleiner Gruppe der &UUML;berlebenden, die heute zum Schweigen über die schreckliche Wahrheit von der geraubten Kindheit und Jugend gezwungen werden. Nur unter der Bedingung, dass sie unterschreiben, dass sie im Ghetto ohne Zwang gearbeitet haben, können sie 2000 Euro erhalten. Unsere Versuche, diese und andere grobe "Fehler" in den Papieren des BADV zu korrigieren lassen, sind von den Beamten ohne Aufmerksamkeit geblieben.

Die falschen Vorstellungen der hochgestellten Beamten von dem jüdischen Leben im Ghetto bestätigen indirekt die Inkonsequenz und das mangelnde Vermögen zur Schlussfolgerung bezüglich der offiziellen Linie der Bundesrepublik In der Frage ihrer moralisch-politischen Verantwortung gegenüber den Opfern der NS-Willkürherrschaft Das bestätigt insgesamt in Deutschland die heutige Lage der &UUML;berlebenden der Hölle des Holocaust - jüdischer Immigranten aus dem ehemals sowjetischen Raum. Wir begreifen nicht, sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin, wieso es möglich ist, dass unsere sehr kleine Gruppe, die ungezählte Leiden in den jungen Jahren vom NS-Regime und später - vom sowjetischen Totalitarismus ertragen musste, die danach zum heutigen demokratischen Deutschland vertraute und hierher kam, hier aber wieder durch die neue Qual durchgehen soll, um ihre Rechte zu verteidigen und den Lebensabend zu verbessern.

- Es geht um unsere zivilrechtliche Lage in der Bundesrepublik Deutschland. Obwohl die Staatsbehörden weltweit über die Verantwortung Deutschlands für die Verbrechen des 3. Reiches deklarierten, ist ihr Inhalt nicht bestimmt und ihre Geltung nicht auf die Opfer des Holocaust - Immigranten aus der GUS erweitert. In Wirklichkeit ist unsere Lage in der BRD unbestimmt, sowohl heute, als auch in Zukunft, weil unser Aufenthalt hier in Deutschland nicht vom Bundestag gesetzlich festgelegt wurde. Jedoch wurde dies auf der Konferenz vom 09.01.1991 von den Premierministern der Bundesländer nur bestätigt. Die NS-Opfer wurden ins "Gesetz über Maβnahmen für im Rahmen humanitärer Hilfsaktionen aufgenommene Flüchtlinge (HumHaG) vom 22.07.1980", wie Kontingentflüchtlinge, einbezogen. Motive dieser Entscheidung wurden vor der &OUML;ffentlichkeit verheimlicht. Das Gesetz ist auf Flüchtlinge aus Staaten der 3. Welt spezialisiert, vor denen Deutschland keine moralisch-politische Verantwortung trägt.

- Wir, die jüdischen NS-Opfer aus der ehemaligen Sowjetunion, haben bis jetzt nicht den gesetzlich - vom Bundestag - eingeführten Rechtsstatus "Verfolgte des Nazi- Regimes". Es scheint unnatürlich, dass noch lebende Opfer wieder, und jetzt im demokratischen und freien Deutschland, selektiert wurden: zum Unterschied von uns haben unsere Mitbrüder aus Polen, Rumänien, Ungarn u.a., die hier seit den 50-60-er Jahren wohnen, solchen Status und bekommen normale, vollwertige Rente nach BEG und alle entsprechenden Vorteile, wie, z.B. besondere medizinische Betreuung.

- Wir erhalten im Moment statt der Altersrente die Grundsicherung im Alter und einen kleinen Zuschuss von der Claims Conference. Unsere Arbeitszeit während des Aufenthalts in der SU wird hier, in Deutschland, nicht anerkannt Im Gegensatz zu den Spätaussiedlern und Vertriebenen, für die die Bundesregierung eine spezielle politische Entscheidung getroffen hat. Die Grundsicherung beschränkt zusätzlich wesentlich unsere Zivilrechte und Freiheiten. Das ist besonders ungerecht und unhaltbar unter Berücksichtigung, dass viele NS-Verbrecher eine vollwertige Rente sogar für die Kriegszeiten erhalten.

- Es ist Zeit eine staatlich-politische Entscheidung seitens der Bundesregierung und des Bundestages zu treffen, um ein Sondergesetz über die Zivilrechte der NS-Opfer und ihrer Ehegatten (-innen) aus der ehemaligen Sowjetunion zu verabschieden Dies würden nicht nur in der Bundesrepublik alle Demokraten positiv wahrnehmen.

Die im Jahre 2006 gegründete "Deutschlands Bundesassoziation der Opfer des Holocaust -jüdischer Immigranten aus dem ehemals sowjetischen Raum" (der Verein wurde am 21.08.2006 im Vereinsregister des Amtsgericht Wismar unter Nummer VR 662 eingetragen' stellt die Interessen einiger hundert Menschen vor, die heutzutage in verschiedenen Städten und Bundesländern Deutschlands leben. Damit entstand eine neue gemeinnützige Organisation, die eine wichtige Rolle im Leben Deutschlands spielen könnte, wenn sie von Staat und Kommuner unterstützt wird.

Unsere Assoziation verfolgt ausschlieβlich mildtätige Ziele. Diese sind u.a.:

- Förderung der Wahrung des Andenkens an die Opfer des Nationalsozialismus;

- Förderung der Integration der überlebenden NS-Opfer aus den GUS in die deutsche Gesellschaft.

Die Assoziation wirkt den &AUML;uβerungen des Rassismus, Antisemitismus, Rechtsradikalismus, Völker- und Religionshasses entgegen. Wir wollen nicht gleichgültig beobachten, wie Neo-Nazis das deutsche und andere Völker und besonders die Jugend wieder auf den Weg der neuen Katastrophen zu drängen versuchen. Um ihnen Widerstand zu leisten, um die Jugend gegen rechtsradikale Ideen zu immunisieren, gehen unsere Mitglieder in die Schulen und Gymnasien, wo sie als Zeitzeugen den Jugendlichen über die NS-Gräueltaten erzählen. Unsere Organisation sammelt und propagiert Dokumente und Materialien, die das Bild des Holocaust wiederspiegeln. Wir möchten im Rahmen eines Projekts die Herausgabe der Erinnerungen, Filme, Kunstwerke sowie die Durchführung von Ausstellungen, Vorlesungen und Vorträgen mit der Thematik des Holocaust verwirklichen. Wir wollen dies tun mit der Hoffnung, dass es zu Menschenliebe und Erhaltung des Friedens helfen kann. Aber paradoxerweise bekommt unsere Vereinigung zu dieser wichtigen erzieherisch-öffentlichen Tätigkeit, obwohl wir unsere Appelle an verschiedene Firmen, Banken, öffentliche und staatliche Organisationen (einschlieβlich ZRJD u.a.) schicken, keine materielle und finanzielle Unterstützung, Im Gegensatz zu verschiedenen rechtsradikalen Organisationen, die unter dem Dach der NPD und auf Kosten aller Bundesbürger und staatlicher Zuwendungen ihre verfassungswidrige rassistische Tätigkeiten durchführen...

Wir sind die letzten Zeugen und Opfer der schrecklichsten Ereignissen in der Geschichte der Menschheit. Die Lehren der Geschichte, so sagt man, sind das, was nicht zu verschmähen ist. Denn die Geschichte ist nicht nur Abdruck der Vergangenheit, sondern auch Bild der möglichen Zukunft. Wir hoffen, sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin, auf Ihre Worte: "Es geht um immer währende Verantwortung, die wir als Nation angesichts der Schrecken des Nationalsozialismus für die Zukunft tragen". Wir erhoffen uns, dass für die letzten &UUML;berlebenden die Gerechtigkeit nicht zu spät kommt.

Wir bitten Sie, sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin, die zwei Vertreter des Vorstandes unserer Vereinigung anzuhören, um unsere Position und Probleme Ihnen ausführlicher darstellen zu können.

Mit besten Wünschen , Hochachtungsvoll

Präsident der Assoziation    Dr. A.Heistver

I.Vize-Präsident    Oleksandr Popov